In Reallaboren Raum agil entwickeln

Dieser Artikel wurde im Fachmagazin Collage in einer französischen Version veröffentlicht.

Dienste wie Airbnb, Uber oder Bird sind schon heute sichtbare Zeichen, dass Digitalisierung die Raumnutzung und damit den Raum verändert. Schon diese Dienste zeigen, dass die Digitalisierung nicht zwangsläufig zu einer nachhaltigen Raumentwicklung beiträgt. Auch wenn sich planerisch Lösungen für die genannten Einzelphänomene herauskristallisieren, fehlt es bisher an Wissen und Antworten der Raumplanung auf die Digitalisierung.

Airbnb generiert Hotelnutzungen in Zonen, in denen Wohnen festgesetzt und die für einen Quartiercharakter geplant sind. Micro-Mobilitätsangebote wie bspw. von Bird oder Lime nutzen den öffentlichen Raum als Abstellfläche für ihre Fahrzeuge und erzwingen so eine bestimmte Nutzung des öffentlichen Raums. Dabei wirken die genannten neuen Raumnutzungen der Digitalisierung generell auf zwei Ebenen. Einmal auf der konkreten Objekteebene, sprich der geänderten Nutzung von Wohnungen und Häusern. Und zum anderen auf einer raumstrukturellen Ebene, sprich der Veränderung von Stadtquartieren durch die Verdrängung der ursprünglichen Funktionen. [1]. 

Dabei werden die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Raum erst sichtbar und von der Raumbeobachtung erfasst, wenn sie – wie an den Eingangsbeispielen gezeigt – Strukturen bereits einschlägig verändert haben. Eine Beurteilung der Auswirkungen und die notwendige Steuerung erfolgt dann in der Raumplanung in einem gesellschaftlichen Diskurs, der zumeist auf der Objektebene geführt und gesteuert wird. In diesem Spagat zwischen neuen Raumansprüchen und zeitlichem Versatz der Wirksamkeit stossen die tradierten Prozesse und Instrumente der Raumplanung an ihre Grenzen. Bislang reagiert die Raumplanung hier nur statt aktiv die Digitalisierung bzw. die daraus entstehenden Anforderungen mitzugestalten.

Reallabore

Eine Methode wie dieser Diskurs in Zukunftsfragen im Wechselspiel zwischen konkreter Objekt- und raumstruktureller Ebene geführt werden kann sind sogenannte «Reallabore» (real world laboratoires). Hier werden in Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und Forschung Lösungen erarbeitet und exemplarisch umgesetzt. Damit leisten Reallabore gezielt einen Beitrag zum gesellschaftlichen Wandel. Dieser neue Ansatz der transdisziplinären Forschung wird momentan in Deutschland, gerade in Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen in grösserem Umfang angewendet [2]. Insbesondere für die Lösungsfindung, wie sie die Raumplanung im Zeitalter der Digitalisierung erfordert, eignet die Methode sich besonders. 

Einen Beitrag zu diesem Diskurs leistet das mehrjährige Forschungsprojekt der HSR  Hochschule für Technik Rapperswil «Nutzen der Digitalisierung für eine nachhaltige Landschafts- und Raumentwicklung», kurz NUDIG. Hierin werden, nach dem Ansatz der Reallabore, die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Raumentwicklung erforscht. Mit den betroffenen Akteur*innen konkreter räumlicher Situationen werden Auswirkungen diskutiert und Szenarien entwickelt sowie Lösungen für eine gewünschte räumliche Entwicklung erarbeitet. 

Als Basis wurde eine Delphi-Studie durchgeführt, um die Raumwirksamkeit der Digitalisierung zu erfassen. Für diese Delphi-Studie wurden 33 ausgewählte Expert*innen aus den Bereichen Siedlung, Verkehr und Landschaft zweistufig befragt. Als Kontrollgruppe diente die Einschätzung von insgesamt 291Mitgliedern der Fachverbände FSU, SVI und BSLA. Kritisch reflektiert wurden die Ergebnisse in einem Experten-Workshop. Die Ergebnisse der Delphi-Studie werden Anfang September veröffentlicht.

Raumwirksamkeit der Digitalisierung

Aus den Einschätzungen der eingeladenen Expert*innen und diejenigen der Fachverbände lassen sich jenseits der Raumwirksamkeit für die genannten drei Bereiche folgende Handlungsstränge ableiten:

Eine konsistente Zielhierarchie in Bezug auf Digitalisierung wird von den Expert*innen als Grundlage für eine Planung als notwendig erachtet – obwohl diese gleichermassen als kaum machbar gesehen wird. Diese scheint kaum möglich, weil die fachbezogen Zielhierarchien Verkehr, Energie, Siedlung usw. in Bezug auf die Digitalisierung zu widerspruchsbehaftet sind. 

Ein agiles Vorgehen kann inkonsistente und sich ändernde Zielhierarchien aufnehmen und so Planungen gestaffelt und reversibel gestalten. Auf der Ebene einzelner Projekte können technische Entwicklungen und Trends in Bezug auf die Raumentwicklung «getestet» und angepasst werden. 

Daten machen bei dieser zunehmenden Prozessorientierung die tatsächliche Nutzung des Raums «sichtbar». So werden bspw. Daten von vollautomatisierten Fahrzeugen oder Mobilfunkdaten zu einer neuen Steuerungsmacht, die die regulatorische und finanzielle Steuerung der Raumnutzung ergänzen. Deshalb ist der Zugang zu Daten für die Raumplanung zu sichern und deren Transparenz zu gewährleisten. 

Jenseits der generellen Handlungsansätze werden im Folgenden nun einzelne Aspekte der Raumwirksamkeit der Digitalisierung aus der Delphi-Studie vorgestellt.

Automatisiertes Fahren und Anforderungen an den Strassenraum

Die Automatisierung von Fahrzeugen wird, so die Einschätzung der Expert*innen, in den nächsten Jahren kommen. Schon in weniger als fünf Jahren wird das automatisierte Parkieren serien- und marktreif sein. Damit wird das Parkieren erleichtert und die Masse der Parkfelder reduzieren sich deutlich, wenn Fahrzeuge automatisch parkieren und die Insassen vorher aussteigen. Dafür bedarf es dann aber im Strassen- oder öffentlichen Raum Platz zum Ausgestiegen.

Bei einer zukünftigen Vollautomatisierung der Fahrzeuge werden dann generell Ein- und Ausstiegszonen von Nöten sein.

Einschätzung der Serien- und Marktreife von vollautomatisierten Fahrzeugen

Der Wandel im Verkehrssystem gibt die Anforderungen an den Strassenraum vor. Diese Anforderungen werden sich wahrscheinlich in kürzeren Zeithorizonten als Nutzungs- oder Infrastrukturplanung vollziehen.  Hier bedarf es entsprechende Planung schon heute mitzudenken bzw. Ansätze zu entwickeln, um auf die Anforderungen künftig reagieren zu können.

Bedeutungswandel der Zentren und temporäre Infrastrukturen

Zentren, seien es Stadt-, Orts- oder Quartierzentren, verlieren durch geänderte Einkaufsgewohnheiten und Online-Shopping ihre klassischen Nutzungen. An anderen Stellen im Raum entstehen, bedingt durch das veränderte Einkaufsverhalten und die entsprechende Logistik, hingegen neue Raumansprüche. Die Stationen von Kurier-, Express- und Paketdiensten (KEP) auch Micro Hubs genannt, wie myPost 24, PickMup, Pick-up, usw. werden zu einer neuen Infrastruktur für die letzte Meile und der Logistikverkehr verändert sich. Auch wenn diese neuen Infrastrukturen mit der fortschreitenden Automatisierung der Fahrzeuge nicht von Dauer sein werden, so prägend können sie in den nächsten Jahrzehnten für den (öffentlichen) Raum werden. (Siehe hierzu auch COLLAGE 2/19: Handel, für oder gegen die Stadt?)
Wie die Ergebnisse zeigen werden nach Einschätzung der Expert*innen die KEP-Stationen, vor allem eine Bedeutung auf der Quartierebene haben.
 

Einschätzung der raumplanerischen Bedeutung von KEP-Stationen / Micro-Hubs

Die europäische Stadt, die ohne die hohe Bedeutung ihrer Zentren auch für die Versorgung nicht denkbar ist, wird durch solche Entwicklungen vor deutlichen Umwälzungen stehen.

Freiraum als "Gegenentwurf"

«Echte» Natur und real erlebte Landschaft nehmen in der Bedeutung möglicherweise zu. Nach Einschätzung der Expert*innen werden Landschaft und Freiraum tatsächlich ein «Gegenentwurf» zur digitalen Welt darstellen. Der Freiraum wird dabei die Konstante sein, die den rascher als bisher gewohnten Änderungen der Raumansprüche eine Gestalt geben kann.

Aus raumplanerischer Sicht wird, wie die exemplarische Darstellung der Ergebnisse der Delphi-Studie zeigt, der öffentliche Raum ein wichtiger Interventionsraum. An diesem lässt sich der Diskurs über eine räumliche Entwicklung im Zeitalter der Digitalisierung führen. 

Reallaboren sind dabei ein tauglicher Ansatz, um theoretisches Wissen in die Praxis zu überführen. Aber mehr noch, diese in den gesellschaftlichen Kontext einer Anwendung zu stellen. Die Digitalisierung kann in diesem Sinne für eine nachhaltige Raumentwicklung genutzt werden – wenn die Raumplaner*innen sich damit aktiv auseinandersetzen.

Literatur

[1] Stors, Natalie & Kagermeier, Andreas (2017). Airbnb-Gastgeber als Akteure im New Urban Tourism. Geographische Zeitschrift

[2] Schäpke, Niko et. al (2017): Reallabore im Kontext transformativer Forschung. Leuphana Universität Lüneburg, Institut für Ethik und Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung

Bilder und Legenden inkl. Quellenangabe, Urheber (Fotos)

Abbildungen: Livia Buchmann/ HSR Hochschule für Technik Rapperswil
Fotos: Urs Matter/ HSR Hochschule für Technik Rapperswil
 



Über den/die Autor/in

Dirk Engelke

Dirk Engelke ist Professor für Raumentwicklung am IRAP Institut für Raumentwicklung und Co-Leiter des Kompetenzzentrum Geoinformation

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