Wie verändert Digitalisierung die Landschaft – und die Rolle der Social Media.
Immer wieder stellt sich die Frage, ob ‘Landschaft’ sich durch Digitalisierung verändert. Kann Landschaft ihren Stellenwert als gesundheitsförderndes öffentliche Gut ausbauen oder verliert sie gar dadurch an Bedeutung, dass Ausflüge und Reisen ‘online’ erfahren werden können? Welche Rolle spielen Social Media als Produkt der Digitalisierung in Planung und Information zu Landschaft? Einige aus dem Covid-Krisenjahr übertragene Erfahrungen lassen erwarten, dass das reale Landschaftserlebnis an Bedeutung gewinnt.
Abb. 1 / 2: auch das vermutlich eine Auswirkung der Digitalisierung auf die Landschaft: nach dem Covid-Jahr erheblich verbreiterter bisheriger Trampelpfad im Naherholungsgebiet. Digitale Informationskanäle verbreiten Informationen über neue Biketrails blitzartig. Landschaft ist ein immaterielles öffentliches Gut. Landschaft wird gesucht, auch dank Social-Media-Informationen ‘beworben’, der Druck nimmt zu, die Gemeinde ‘schaut zu’ .. ?
Eine Studie des Instituts für Landschaft und Freiraum (ILF) der OST beleuchtete das Freizeitverhalten und die Einstellung der Deutschschweizer Bevölkerung 65+ in Bezug auf private, halböffentliche und öffentliche Frei- und Grünräume während der Coronakrise im Frühjahr 2020 (Karn, S. u.a., 2020).
Die Studie zeigt einerseits, dass der Lockdown für ältere Menschen vor allem emotional aber auch physisch negative Folgen hatte. Andererseits wird durch die Untersuchung auch deutlich, welche ausgleichende Wirkungen die Freiräume haben, denn kontemplative Aktivitäten im Freiraum und die naturbezogene Wahrnehmung wurden nach Aussagen der befragten häufig umso mehr geschätzt. Gemäss der Studie nutzte die Bevölkerungsgruppe über 65 Jahre die Freiräume aber aufgrund der vorgeschriebenen Massnahmen deutlich weniger resp. zum Teil weniger lang. Die Erkenntnisse zu reduzierten und kürzeren Freiraumbesuchen sind bedenklich, wenn man sich vor Augen führt, dass generell eine Mehrheit der Befragten (nämlich 78%) die Frei- und Grünräume für ihre Gesundheitsvorsorge aktiv nutzten. Dies bildete während des Lockdowns ein wichtiges Besuchsmotiv, für 31% nahm dieses Argument sogar an Bedeutung zu. Nur so konnten die Einzelnen Gesundheit und Lebensqualität offensichtlich in gewissem Masse aufrechterhalten.
Eigene Beobachtungen ausserhalb dieser Studie zeigen, wie die Benutzung der Landschaft als Freizeit-, Ausgleichs- und Erholungsraum offenbar in gewissen Bereichen auch massiv zugenommen hat (vgl. u.a. Abb. 1). Dabei stellt sich die Frage, ob dies eine Auswirkung des Lockdowns (mehr freie Zeit?), der digitalen Überfrachtung während der Homeoffice-Aktivitäten und / oder auch der viralen Verbreitung von Informationen über die sozialen Medien ist. Diesem weiter nachzugehen, dürfte für Fragen der landschaftsbezogenen Gesundheitsvorsorge als auch für Fragen der Auswirkungen der Digitalisierung von Bedeutung sein.
In unseren Studien NUDIG wurde mit Delphi-Umfragen deutlich (schon vor der Corona-Massnahmen!), dass die Möglichkeit, sich für einige Zeit von einer Lebensweise zurückzuziehen, welche auf allen Ebenen von digitalen Geräten und Entwicklungen dominiert ist, als wichtiger Faktor in der Naherholung wahrgenommen wird.
Kommunikation hat sich verändert und nimmt zunehmend digitale Formen an, sichtbar verstärkt in der Corona-Krise. Die historische Entwicklung der Kommunikation von Gespräch über gedrucktes / geschriebenes Wort, hin zu Telefon, Bild und vermeintliche Realität (virtuelle Ausflüge, Zoom- und Teams-Hintergrundbilder in wilder Naturlandschaft, am Nordpol oder am Strand) ist augenfällig.
Wir stellten in der Umfrage den Experten als auch einer Kontrollgruppe u.a. zudem die Frage, ob (neben der Digitalisierung generell) konkret die verstärkte Nutzung von Social Media auf Freiraum und Landschaft einen Einfluss haben wird (vgl. Schmitt, H.M. u.a., 2019; Frage 7). Fast die Hälfte der Experten stimmen der Frage zu, ergänzt um die ‘Eher-Zustimmenden’ sind es gegen 80%, bei den Experten wie auch bei der Kontrollgruppe.
Dass virale Verbreitung von Filmen oder Posts zu einem kurzzeitigen, explosionsartigen Anstieg der Besucherzahlen führen können, zeigt auch das Beispiel des Restaurants Aescher in Wasserauen (eine Publikation in einem amerikanischen Magazin und auf den Social-media-Kanälen führte zu einem massiven Anstieg der Besucherzahlen; die Wirte waren dem Ansturm bald einmal nicht mehr gewachsen und die ‘Beiz’ musste schliessen).
Andererseits wird in den NUDIG-Untersuchungen aber auch der Einsatz von Social Media für Partizipation und Kommunikation oder zur Lenkung von Besucherströmen als adäquat und ausbaubar erachtet. Der Einsatz von modernen digitalen Visualisierungstechniken wie Augmented Reality (AR) im Besuchermanagement und das Nutzen von digitalen Technologien zur Erhebung von Nutzungsarten und -intensitäten werden als wichtige Herausforderungen gesehen. Es bräuchte das Engagement der Zuständigen in Politik und Gemeinden, diese Information und proaktive Lenkung tatsächlich zu implementieren, die entsprechenden Daten zu erheben und zu nutzen.
Dass mit der zunehmenden Digitalisierung von einem erheblichen Wandel der heutigen Kommunikations- und Visualisierungsmittel auszugehen ist, zeigen neben den Erkenntnissen im NUDIG-Projekt auch andere Quellen und Untersuchungen.
Karin Frick (Bereichsleiterin Forschung am Gottlieb Duttweiler Institut in Rüschliklon) berichtete im Zürcher Oberländer (ZO 20.11.2020 / AZ 23.11.2020, ‘Unsere Kinder werden sich in mehreren Realitäten bewegen’) über den 17. Europäischen Trendtag am 10.3.2021, welcher u.a. unter dem Thema stand «Wie wir uns künftig begegnen und treffen werden». Auch sie drückt die Meinung aus, dass wir uns in Zukunft mehr im Freien, auf einem Spaziergang oder einer Wanderung treffen, um angemessene sozialen Kontakt sicher zu stellen. Jedoch, künftige Generationen würden ‘kaum mehr zwischen physischer und virtueller Realität unterscheiden. Wie selbstverständlich würden sie sich in mehreren Realitäten bewegen, unterstützt durch Instrumente, die neue Erlebnismöglichkeiten eröffnen, wie etwa ‘Hologramm oder digitaler Doppelgänger in einer virtuellen Welt’ (Zitat aus ZO, 20.11.2020). Bereits eingeführt sind Apps (vgl. z.B. SocialCompass), die auswerten, wie nahe wir jemandem digital stehen. Richten wir uns also ein auf selbstverständliche soziale Kontakte in digitalen Räumen, aber eben auch in Landschaft und Freiraum, deren steigende Bedeutung Karin Frick im Interview andeutet. Nicht zu vergessen ist die Bewegungskomponente in der physischen Bewegung im Freien.
Dass qualitätsvolle Landschaft aufgrund Digitalisierung (und den Erfahrungen während der Corona-Krise) eine andere Rolle bekommen, lässt sich aber auch anderweitig erkennen. Reto Bürgin (Geograf und Soziologe an der Uni Bern) berichtet im Themenheft 36 der Metron AG (2020) über ein SNF-Forschungsprojekt an der Uni Bern zu Multilokalität (Heute hier, morgen dort – digital und ortsunabhängig arbeiten, in Metron Themenheft 36, S. 14.). Mit der Covid-Krise erhielt diese Entwicklung sehr offenbar weitere Bedeutung, wie der plötzliche Homeoffice-Wandel in den letzten Monaten ja auch zeigt. Eine wesentliche Voraussetzung für Multilokalität sind die modernen digitalen Kommunikationstechniken. Digitale Werkzeuge wie Laptop, Smartphone, Kommunikationsplattformen und Internet ersetzen Arbeit am Arbeitsplatz und lassen Multilokalität zu; für Multilokalität ist Digitalisierung also unverzichtbar.
Bürgin zitiert im Zusammenhang mit der Multilokalität das Modell der ‘Marginalität’ (Grabher, G., 2018 Marginality as strategy: Leveraging perpherality for creativity. Environ. Plan. A50, p 1785 – 1794). «Marginalität» bezeichnet hier «eine strategisch bewusst selbstgewählte Position, um kreative und abweichende Ideen vom Druck des städtischen Mainstreams zu schützen und ihnen freien Lauf zu lassen», ebd.). Wie wirkt sich die Wahl marginaler Lebens- und Arbeitsformen auf die Arbeit, aber auch auf die Landschaft aus? Studienteilnehmer in Berggebieten nutzen Marginalität um auch mal Abstand von digitalen Technologien zu nehmen, eine Handskizze anzufertigen, geringere Ablenkung in kontemplativer Landschaft zur Konzentrationsförderung zu nutzen; Bürgin fragte u.a. ob sich «...Tapetenwechsel in die Naturlandschaft der Berge durch eine positive Wirkung auf Arbeitsmoral und -motivation bemerkbar (macht)» (ebd.; S. 16). Multilokalität und Marginalität ergeben aber nur ein sinnvolles Ganzes, wenn auch die Landschaftsqualität dementsprechend ist; ein Blick aus dem Fenster in die anthropogen überprägte Landschaft ‘marginaler Orte’ verfehlt den eigentlichen Sinn. Und Bürgin betont, dass digitale Kommunikation eine gewisse Voraussetzung ist, um nicht Isolation entstehen zu lassen. Neue Lebensformen - ob Homeoffice infolge Lockdown, Suche der Marginalität oder dank digitaler Kommunikationsformen - kann eine Auswirkung auf Landschaft und Freiraum kaum noch abgesprochen werden. Einerseits bieten sich für das Überleben der Bergdörfer neue Chancen, andererseits erhalten kontemplative, reale Landschaften neue Bedeutung. ‘Zurück aufs Land’ scheint im letzten Jahr auch in der Immobilienwirtschaft festzustellen zu sein.
Digitale Kommunikation, digitales Arbeiten und digital unterstützte Freizeitaktivitäten bedeuten aber auch digitale Daten. Verfügbarkeit und (sachgemässe) Verwendung über die Nutzung und die Nutzenden der Landschaft werden zukünftig für die Steuerung und Lenkung der Landschaftsentwicklung erheblich an Bedeutung gewinnen (vgl. auch Auswertungen zu Frage 8 der Delphi-Studie; rund 2/3 der Experten und der Kontrollgruppe stimmen dieser Aussage zu).
Matthias Niklowitz (Handelszeitung, 28.1.2021, S. 41). mahnt allerdings «Es werden mit neuen Technologien mehr Daten erhoben. Damit steigen auch die Herausforderungen sie richtig zu interpretieren». Beat Fischer (GL-Mitglied der Fa. Intervista, welche u.a. eine App zur Covid-19-Mobilitätsmonitoring bereitstellt) ergänzt im gleichen Artikel: «Je mehr Daten zur Verfügung stehen und durch neue Möglichkeiten generiert werden, desto herausfordernder kann es werden, daraus die richtigen gültigen Erkenntnisse abzuleiten».
Niklowitz beschreibt weiter, dass (inzwischen vergessene) Unternehmen wie Analog die Ersten waren, die Nutzungsmuster aus Webseiten-Nutzungen ermitteln konnten, später Google Analytics die Marktforschung revolutionierte, was heute nahezu Standard ist und Firmen wie Netflix heute «weiss, welches die Vorlieben der Zuschauenden sind und wie man erfolgreich Drehbücher schreibt» (ebd.).
In der Landschaftsforschung stehen solche Erkenntnisse noch aus, sieht man von wenigen partizipativen Landschaftsbildanalysen ab, die z.B. die Vorlieben der Erholungssuchenden in Landwirtschaftsgebieten erforschen und davon Zielbilder und Landschaftsentwicklungskonzepte ableiten (vgl. Agroscope et.al., Vortrag am 2. Schweizer Landschaftskongress, Okt. 2020).
Es geht vermutlich nicht mehr darum, ob Digitalisierung die Landschaft verändert, sondern darum, ob Politik, Gemeinden und Planung die nötigen Instrumente erstellen und nutzen, Digitalisierung sinnvoll einzusetzen. Die Entwicklung unterschiedlicher Raumtypen steht – nicht zuletzt infolge der Digitalisierung – in engem Zusammenhang zwischen Raumnutzung, Nutzenden und gesellschaftlichen Prozessen.
Abb. 3: Auszug aus Tracking-App für Freizeitsportler. Benutzungsintensität wird durch Helligkeit visualisiert, nicht durch trockene Excel-Tabellen. Corona liess die Karten ‘heller werden’. (Quelle: www.strava.com/heatmap, abgerufen 4.11.20 Fussverkehr / 6.3.2021 Veloverkehr).
Verweise:
- Karn, S. (Projetleitung), Egeter, M., Finger-Stich, A., Ketterer Bonnelame, L., Schellenberger, S., Siegrist, D. (2020). Bleiben Sie zu Hause. Bitte. Alle. Zwei Befragungen zum Freizeitverhalten der Bevölkerung in Bezug auf Frei- und Grünräume während der Coronakrise in der Schweiz. Schriftenreihe des Instituts für Landschaft und Freiraum. OST Ostschweizer Fachhochschule, Nr. 18. Rapperswil.
- Niklowitz, Matthias: Digitalisierung steigert Datenfülle. In: Handelszeitung. Nr. 5, 28. Januar 2021. S. 41. Zürich.
- Metron AG (Hrsg.), 2020: Von digitalen Städten und Dörfern. Themenheft Nr. 36, Brugg.
- Zürcher, Heinz: „Unsere Kinder werden sich in mehreren Realitäten bewegen“. Interview mit Trendforscherin Karin Frick. ZO - Zürcher Oberländer, S. 15, 20.22.2020.